Vorsprung durch Hightech
Vergangenen Oktober wurde mit der Eröffnung des neuen Produktionsgebäudes in Wien-Meidling der bislang jüngste und vorläufig auch letzte Bauabschnitt erfolgreich abgeschlossen. Hinter der schlichten Hülle eines klassischen Bürogebäudes verbirgt sich eine geballte Ladung Gebäude-, Anlagen- und Produktionstechnik auf international allerhöchstem Niveau.
Knapp 700 Millionen Euro ließ sich das 1885 gegründete Familienunternehmen den letzten Erweiterungsschritt in Wien-Meidling kosten und schuf damit nicht nur eine der weltweit modernsten Produktionsanlagen für Zellkulturen, sondern auch 500 neue Arbeitsplätze. Schon bislang wurden am Standort biopharmazeutische Arzneimittel auf Basis von Mikroorganismen wie Bakterien oder Hefen in großem Umfang hergestellt. Nach Abschluss der über vierjährigen Bauphase werden im neu errichteten Produktionsgebäude – dem sogenannten LSCC (Large Scale Cell Culture) – Zellkulturen für die Herstellung von Arzneimitteln und Medikamenten verwendet. Das ermöglicht nicht nur deutlich höhere Produktionsmengen, sondern auch die Herstellung wesentlich komplexerer Wirkstoffe.
Die Investitionen in das neue Produktions-gebäude samt Nebengebäuden sind die mit
Abstand höchsten, die das Unternehmen in seinem bald 125-jährigen Bestehen jemals am Stück getätigt hat. Auch für die Stadt Wien als Wirtschaftsstandort ist das Investitionsvolumen in den Um-, Aus- und Erweiterungsbau gewaltig, handelt es sich laut dem Wiener Finanz- und Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke schließlich um die größte Einzelinvestition eines Privatunternehmens in der Geschichte der zweiten Republik. „Der Standort Wien wird seit Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut. Der jetzige Ausbau hat jedoch eine andere Dimension. Mit den neuen Kapazitäten können wir Millionen Menschen weltweit mit modernen Arzneimitteln versorgen und stärken gleichzeitig den Pharmastandort Europa“, ist RCV-Generaldirektor Philipp von Lattorff überzeugt.Â
Internationale Drehscheibe
Alles begann mit einer Packung Backpulver. 1895 meldete das bescheidene Familienunternehmen sein erstes Patent an – und zwar für ein neues Verfahren zur Herstellung von Backpulver auf Milchsäurebasis. Seitdem hat sich Boehringer Ingelheim zu einem Big Global Player im Bereich der Forschung und Produktion von biopharmazeutischen Arzneimitteln entwickelt. Vor knapp 75 Jahren wurde in Wien die erste Auslandsniederlassung eröffnet, die in weiterer Folge zu einem eigenen Unternehmensstandort ausgebaut und seitdem kontinuierlich erweitert wurde. Heute ist das Regional Center Vienna (RCV) verantwortlich für das Humanpharma- und Tiergesundheitsgeschäft in 33 Ländern, betreut insgesamt 19 Standorte und koordiniert die klinische Forschungstätigkeit in 18 Ländern rund um den Globus. Zusätzlich ist auch das Krebsforschungszentrum im RCV angesiedelt, das eng mit dem firmeneigenen Grundlagenforschungsinstitut IMP (Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie) sowie dem Schwesterunternehmen ViraTherapeutics in Innsbruck zusammenarbeitet. Die im RCV gebündelten Aktivitäten sowie das bestehende Netzwerk waren für die Firmenleitung letztendlich auch ausschlaggebend bei der Entscheidung, das neue Produktionsgebäude in Wien zu errichten. Neben der neu errichteten Anlage in Wien, die sowohl für das eigene Produktportfolio als auch zur Herstellung für externe Kunden genutzt wird, verfügt Boehringer Ingelheim noch über drei weitere Produktionsstätten in Freemont (USA), Shanghai (China) sowie Biberbach in Deutschland. Â
Innere Werte
Zentrum der aktuellen baulichen Erweiterung ist zweifellos das LSCC, daneben wurden aber auch noch eine Reihe weiterer Gebäudekomplexe am Bauplatz an der Altmannsdorfer Straße errichtet. Dazu zählen das Logistikzentrum BLC samt Hochregallager, das Quality-Gebäude, in dem die Qualitätsprüfung und -kontrolle stattfindet, ein Werkstättengebäude in Gebäudeunion mit Betriebsfeuerwehr sowie eine eigene Energiezentrale. Für die architektonische Planung der Neubauten zeichnet Architekt Dieter Podsedensek von Delta Pods Architects verantwortlich, die bei dem Großprojekt auch gleichzeitig die Generalplanung sowie die örtliche Bauaufsicht übernommen haben. Insgesamt umfassen die Neubauten eine Bruttogeschoßfläche von insgesamt rund 73.000 Quadratmetern. Allein 56.000 Quadratmeter davon umfasst das LSCC. Von außen sieht der Stahlbetonbau mit vorgehängter Glas-/Metallfassade wie ein großes, modernes Bürogebäude aus. Dieser Eindruck ändert sich spätestens mit dem Eintritt ins Gebäude, der strengen Zutrittskontrollen unterliegt. „Je nachdem wohin man sich im Gebäude bewegen will, muss man mehrere Schleusen passieren und sich mehrfach umkleiden bzw. Schutzanzüge anlegen“, erklärt Christian Eckermann, Standortleiter der Biopharmazie Wien. Das dient nicht ausschließlich dem Schutz der Mitarbeiter, sondern vor allem auch dazu, die hohen Anforderungen an die Keimfreiheit der Raumluft in den unterschiedlichen Reinräumen zu gewährleisten. Da und dort kann man auch von den Verkehrsflächen im Gebäude einen kurzen Einblick in die Produktionsanlagen erhaschen. Für die Luftreinheit im Gebäude, vor allem in den Produktionshallen, sorgt eine extrem leistungsstarke Lüftungsanlage, die pro Stunde rund zwei Millionen Kubikmeter Luft absaugt, reinigt und wieder in die Räume zurückführt. Die Lüftungs-zentrale samt Rückkühlinstallation befindet sich im Dachbereich, die erforderlichen Kälteanlagen im Keller des Gebäudes.
Autonome Ver- und Entsorgung
So wie die gesamte Anlagen- und Produktionstechnik ist auch die Gebäudetechnik am Standort Wien auf dem neuesten Stand. Ãœber die neu errichtete und im Jänner 2020 eröffnete Energiezentrale auf dem Werksgelände wird der gesamte Energie- und Medienbedarf abgedeckt. Neben Strom erzeugt und verteilt die Energiezentrale über ein Werksnetz auch die Medien Dampf, Klimakaltwasser, Heizungswasser und Druckluft sowie die für die Produktion benötigten Medien Stickstoff, Sauerstoff und Kohlendioxid. Darüber hinaus verfügt die Energiezentrale auch über eine Neutralisationsanlage für Behandlung und fachgerechte Entsorgung der Abwässer. Â
Hightech-Dämmstoffe
Bei so viel Technikbedarf kommen am Gelände und in den Gebäuden mehrere hundert Kilometer ober- und unterirdische Ver- und Entsorgungsleitungen zusammen. Einen wesentlichen Parameter für die einwandfreie Funktion stellten dabei technische Isolierungen dar, da die einzelnen Dämmstoffe extremen Belastungen standhalten müssen. Gerade bei Produktionsprozessen im Pharmabereich ist oft der Einsatz hocheffizienter Kälteanlagen erforderlich mit Tieftemperaturen jenseits der minus 190 Grad Celsius. Die technische Isolierung der Rohrleitungen verfolgt dabei gleich mehrere Ziele. Zum einen sollen Energieverluste und damit Energiekosten gering gehalten werden, zum anderen kann bei sehr tiefen Betriebstemperaturen das Wasser aus der Umgebungsluft an den Oberflächen der Rohre kondensieren. Innerhalb kürzester Zeit bilden sich zentimeterdicke Eisschichten, die die Gefahr von Rissen oder Undichtheiten in den Rohren wesentlich erhöhen und zudem die Korrosion der Rohre extrem beschleunigen. Kondensation und Eisbildung an Ver- und Entsorgungsleitungen müssen deshalb sowohl außerhalb als auch im Gebäude verhindert werden. Bei Boehringer Ingelheim in Wien wurden deshalb nahezu alle Rohrleitungen mit Kaiflex vom Dämmstoff-spezialisten Kaimann isoliert. Der große Vorteil dieser technischen Isolierung liegt unter anderem in ihrer faserfreien Struktur, wodurch sie sich auch für die Anwendung in Reinräumen bis zur Reinklasse 100 eignen. Zusätzlich bietet Kaiflex einen wirkungsvollen Schutz gegen eindringende Feuchte und Schimmelbildung.
Sicherheit zuerst
Sicherheit wird im neuen Gebäude von Boehringer Ingelheim großgeschrieben – nicht nur in Bezug auf den gesamten Fertigungsprozess und die unterschiedlichen Pharmaprodukte, sondern vor allem auch für die Menschen, die im Gebäude arbeiten. Besonders für den Einsatz in stark frequentierten Gebäuden und Wohnhäusern entwickelt, zeichnet sich der flexible Dämmstoff Kaiflex KKplus 51 neben besten Isolationseigenschaften auch durch hohe Brandfestigkeit und Flammwidrigkeit sowie geringe Rauchentwicklung im Brandfall aus. Damit trägt das Dämmsystem im Ernstfall erheblich zum Personenschutz bei: Fluchtwege bleiben sichtbar und die Erstickungs- und Vergiftungsgefahr wird deutlich vermindert.   Â
Versorgung sichergestelltÂ
Das gesamte Leistungsvermögen der Energiezentrale wurde so dimensioniert, dass auch die neuen Gebäude mitversorgt werden können. Die vorhandenen Gasmotoren in der Energiezentrale liefern so viel Energie, dass damit rund 8.500 Einfamilienhäuser mit Strom versorgt werden können. Allein die Dampfkessel wären in der Lage, über 4.000 Häuser bzw. 200 Supermärkte mit Kühlleistung zu beliefern.    Â
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STANDORTENTWICKLUNGÂ
Boehringer Ingelheim Wien
1848   Eröffnung der ersten Auslandsniederlassung in Wien
1957Â Â Â Ansiedlung des Unternehmens in Wien-Meidling
1963   Beginn der Forschung an Hühnerinterferon
1982   biopharmazeutische Produktion im kleinen Maßstab
1985   Eröffnung der ersten großtechnischen biopharmazeutischen Produktionsanlage
1995Â Â Â Erweiterung der biopharmazeutischen Produktion
1998Â Â Â Start der biopharmazeutischen Auftragsproduktion
2005Â Â Â Erweiterung der biopharmazeutischen Produktion in Wien
2021   Eröffnung LSCC samt Nebengebäuden Â
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FAKTEN:
Neubau Produktionsgebäude LSCC, 1120 Wien
Bauherr:Â Boehringer Ingelheim RCV Gmb & Co KG, Wien
Architektur, Generalplanung, örtliche Bauaufsicht: Delta Pods Architekten, Wien
Bauausführung: PORR AG, WienÂ
Projektsteuerung/begleitende Kontrolle:Â VPB Vernetzt Planen + Bauen ZT GmbH, Wien
Technische Isolierung:Â Kaimann/Saint-Gobain Austria, Stockerau
Bruttogeschoßfläche gesamt: 73.000 m²
Bruttogeschoßfläche LSCC: 56.000 m²
Planungszeit: 2015–2020
Baubeginn: April 2017
Gesamtfertigstellung: Oktober 2021
Baukosten: ca. 700 Mio. €
Zitat:
„Wir eröffnen hier eine der modernsten biopharmazeutischen Produktionsanlagen der Welt. Der gesamte Produktionsprozess ist hochgradig automatisiert.“
Christian Eckermann, Leiter Biopharmazie Wien