Architektur der Gegensätze

  • La Passerelle:
    La Passerelle:
    Die neue Mediathek im südfranzösischen Vitrolles setzt mit ihrer geschwungenen Fassade auf einem gläsernen Sockel einen designlastigen Kontrapunkt in die langweilige Rasterbebauung. © Raphaël Demaret
  • Der Innenraum präsentiert sich als geschwungener Parcours durch den Raum. Das zweigeschoßige Atrium wird durch eine Passerelle in zwei Hälften geteilt.© Raphaël Demaret
  • © Raphaël Demaret
  • © Raphaël Demaret
  • Seifenblase:
    Seifenblase:
    Planerisch, baulich und für den trockenen Innenausbau eine der größten Herausforderungen ist der „Raum der Märchen“ ein Ellipsoid, das im Raum zu schweben scheint und das optische Highlight des Atriums bildet.© Raphaël Demaret
  • © Raphaël Demaret
  • Sowohl im Außen- als auch im Innenbereich wurde mit der Spachtelung in Ausführungsstufe 4 auf eine extrem glatte und streiflichtfreie Oberfläche Wert gelegt.© Raphaël Demaret
  • © Raphaël Demaret
  • Der „Raum der Märchenstunde“ nennt sich das fast frei in der Eingangshalle schwebende Oval, das nicht nur an die Planung sondern vor allem an das ausführende Trockenbauunternehmen höchste handwerkliche Anforderungen stellte.© Raphaël Demaret

Auf einem fast fragil wirkenden Glaskubus setzte das Pariser Architektenteam rund um Jean-Pierre Lott einen Baukörper aus massivem Stahlbeton, dessen schwere Hülle eine kontinuierlich umlaufende Welle formt. So als hätte sie der vom Meer wehende Südwind in voluminöse Falten geworfen, die beim Aushärten in der Bewegung erstarrt sind.

Eine große, stattliche Mediathek für eine vergleichbar kleine Stadt – das ist nur einer der ­Gegensätze, die „La Passerelle“ – die neue Haupt­bibliothek von Vitrolles – in sich birgt. Die ­Motivation, die hinter dem imposanten Bauwerk steckt, ist nachvollziehbar, wenn man einen Blick in die Geschichte von Vitrolles wagt: Vor weniger als hundert Jahren zählte das ehemalige Dorf in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur nur knapp 900 Einwohner. Das massive Wachstum setzte erst Anfang der 1960er Jahre ein. Seitdem hat sich die Bevölkerung auf aktuell rund 35.000 Einwohner nochmals vervielfacht. Mit der neuen Bibliothek im Zentrum der Stadt findet der vor knapp einem Jahrzehnt eingeleitete städtische (Re)Vitalisierungsprozess vorläufig seinen krönenden Abschluss.  

Vom Fischerdorf zur Schlafstadt

Das Kleine Fischerdorf gleich hinter dem Flughafen, nur rund 15 Kilometer im Nordwesten von ­Marseille gelegen, ereilte dasselbe Schicksal wie viele kleine Städte und Dörfer im Umfeld großer Metropolen. Städteplanerisch mehr oder weniger ohne Konzept wurden innerhalb kürzester Zeit hunderte großvolumige Geschoßwohnungsbauten aus der Erde gestampft, die architektonisch im besten Fall als anspruchslos bezeichnet werden können. Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich damit das dörfliche Idyll in eine riesige Schlafstadt, die für die arbeitende Bevölkerung von Marseille vergleichsweise günstigen Wohnraum zur Verfügung stellt, der zudem vorwiegend in den Nachtstunden genutzt wird, wodurch die Stadt selbst tagsüber ein kaum funktionierendes Stadtleben für ihre (abwesenden) Bewohner/innen bereithält.

Stadtreparatur

Die neue Mediathek mit einer Netto-Nutzfläche von fast 4 000 Quadratmetern ist der Höhepunkt der knapp ein Jahrzehnt davor in Gang gesetzten Stadtreparatur, die aus der „schlafenden Stadt“ eine Stadt mit einem aktiven Gemeinschafts- und Sozialleben machen soll. In der Stadtmitte und ­direkt an der nach Marseille führenden Haupt­verkehrsachse gelegen, setzt Architekt Jean-Pierre Lott ein deutliches und selbstbewusstes Zeichen, welches das Stadtzentrum beleben und Identität stiften soll. Dazu trägt einerseits die Architektur selbst bei, mit ihrem mächtigen amöbenartigen Oberbau auf einem sehr filigranen, gläsernen Kubus als Sockel, der sich noch ganz streng an den orthogonalen städtebaulichen Raster hält. Auf der anderen Seite ist es die Gebäudenutzung, die ­anziehen soll: Im Obergeschoß – zur Außenwelt durch massive Betonmauern gut abgeschottet – bildet die Mediathek einen geschützten, ruhigen und weitläufigen Rückzugsort, während das Erdgeschoß mit öffentlichen Funktionen dicht bestückt, die Passanten mit demonstrativer Offenheit und Durchlässigkeit geradezu in das Gebäude locken soll. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Innenraum und Außenwelt, wird der Straßenverkehr auf der einen Seite und der vor dem Gebäude neu angelegte Park auf der anderen ­Seite zur kontrastreichen Kulisse für die Innenraumgestaltung.

Einladend

Im Glaskubus sind erdgeschoßig die Leihstelle und die Kinderabteilung der Bibliothek untergebracht sowie ein öffentliches Café, ein Vortragsaal, ein großzügiges Auditorium und ein Ausstellungsbereich für wechselnde Bespielung. Das Gebäude ist so konzipiert, dass der gesamte ebenerdige Bereich auch außerhalb der Bibliotheksöffnungszeiten ­unabhängig genutzt werden kann. 

Die sich nach oben hin verjüngende, frei im doppelgeschoßigen Atrium stehende, geschwungene Freitreppe soll die Besucher ins Obergeschoß ziehen, wo sich der Großteil des Freihandbereichs der Bibliothek befindet. Ebenfalls im Obergeschoß befindet sich hinter der Betonfassade versteckt und von ihr geschützt eine holzgedeckte Freiluftterrasse, die über die unregelmäßig angeordneten, polygonalen Einschnitte in die Hülle einen immer wieder anderen Ausblick auf die umliegende Stadt bietet. Neben Freihandbereich und Terrasse befinden sich im ersten Obergeschoß auch mehrere Arbeits- bzw. Leseräume. Das zweite, zurückgesetzte Obergeschoß beherbergt ausschließlich Büroräumlichkeiten und ist dem Verwaltungspersonal vorbehalten. 

Ganz in Weiß

Weiß ist die dominante Farbe der Innenraumgestaltung – sowohl in den offenen Sockelgeschoßen als auch in den Geschoßen darüber. Dem rechten Winkel der Stadtstruktur wird im gesamten Gebäude eine fließende Raumlandschaft entgegengesetzt: Treppen, Galerien, Brüstungen, Trenn­wände und selbst die Möblierung weisen geschwungene Formen auf, die mäandernd durch das Gebäude geleiten. Um der ganzen Bewegung Ruhe zu verleihen, sind alle Oberflächen mit Ausnahme des Fußbodens, sämtliche Einbauten und der überwiegende Großteil der Möblage in Weiß gehalten. Vereinzelte, kräftige Farbakzente in den Grundfarben Rot, Blau oder Grün setzen ­lediglich die im Raum verteilten Polstermöbel bzw. die Unterseiten der abgehängten Deckenelemente, welche besondere Plätze wie die Infopoints oder Computerstationen kennzeichnen. 

Intimzone

Namensgebend für das Gebäude und markantes Designelement des zweigeschoßigen Atriums ist eine Passerelle – eine Brücke, die quer durchs Atrium verläuft und dieses in zwei Teile „schneidet“. In einen dieser Bereiche setzte das Architektenteam den markantesten und gleichzeitig intimsten Bereich des Gebäudes: den Raum der Märchenstunde. Ein weitgehend geschlossenes, im Raum schwebendes Ellipsoid dient als Rückzugsraum für (Kinder-)Gruppen zum konzentrierten Vorlesen, Geschichten erzählen und Lauschen. 

Innenausbau mit höchstem Anspruch

„Der Raum der Märchenstunde“, oder auch „die ­Seifenblase“ genannt, steht stellvertretend für die Ansprüche, die in diesem Projekt an den trockenen Innenausbau gestellt wurden und ist gleichzeitig das „Masterpiece“ des ausführenden Trockenbauunternehmens Denie la Stafferie. Den Designvorstellungen des Architekten folgend soll der Innenraum Bewegung und Leichtigkeit ausdrücken. Bewegung wird vor allem durch die geschwungenen Raumbegrenzungen und Einbauten vermittelt, die gewünschte Leichtigkeit wird maßgeblich von der Farbgebung und den matten, glatten und vor allem streiflichtfreien Oberflächen erzeugt. 

Bei der Seifenblase arbeiteten Architekt, Stahlbauer und Trockenbauunternehmen eng zusammen und entwickelten eine Konstruktion, die ein Maximum an Vorfertigung ermöglichte. So konnte die Errichtungszeit auf der Baustelle vergleichs­weise kurz gehalten werden. Die einzelnen faserverstärkten Gips-Formteile der inneren und äußeren Schale wurden vom Trockenbauunternehmen in der Werkshalle vorgefertigt und vor Ort auf der Baustelle nur noch auf die Unterkonstruktion montiert. Innen wie außen wurden die Formteile in Ausführungsstufe 4 verspachtelt. Analog dazu erfolgte auch die Vorfertigung der abgehängten Deckenelemente, die sich im gesamten Gebäude wiederfinden und spezielle Plätze wie Infopoints oder Computerstationen kennzeichnen. Hier galt es in Zusammenarbeit mit dem Zimmerer eine möglichst leichte, höchst stabile und statisch optimierte Konstruktionslösung zu finden, auf die die vorgefertigten Formteile montiert werden konnten.

Ökologisch vorbildlich

Mit ein Grund für den weitreichenden Einsatz von Gips- und Gipsplatten im Innenraum waren nicht nur die Optimierung des Bauablaufs und der Bauzeit, sondern vor allem auch ökologische Überlegungen. Das Gebäude wurde nach den Nachhaltig­keitsprinzipien des französischen Umweltlabels „Bâtiment Durable Méditérrannée“ (BDM) errichtet, wonach alle drei Nachhaltigkeitskomponenten – ökologisch, sozial, ökonomisch – erfüllt werden mussten. Der Einsatz von umweltfreundlichen und ökologisch unbedenklichen Gips- und Gipsprodukten bringt in der BDM-Bewertung Pluspunkte. Bei der Stahlbetonhülle kam deshalb auch ein Portlandkomposit-Zement zum Einsatz, dem rund 30 Volumsprozent Hüttensand zugemischt werden. Da es sich beim Hüttensand um ein Nebenprodukt aus der Stahlherstellung handelt, fällt bei der Zementherstellung deutlich weniger CO2 an, wodurch der verwendete Beton als kohlenstoffdioxidarmes Produkt gewertet wird. Somit konnte in Summe das BDM-Umweltlabel in Silber erreicht werden.  

FAKTEN:

Mediathek „La Passerelle“
Avenue des Salyens, Vitrolles/Frankreich

Bauherr: Stadt Vitrolles – vertreten durch Icade, Vitrolles/FR
Architekt: Jean-Pierre Lott, 75001 Paris
Tragwerksplanung: Oteis, Ais-en-Provence/FR
Technische Gebäudeausrüstung (TGA): Oasiis, Aubagne/FR
Akustikplanung: Acoustb/Agence Sud, Saint-Martin-d'Hères/FR
Trockenbau: Denie la Stafferie, La Colle sur Loup, Provence-Alpes-Cote d’Azur/FR

Nutzfläche: ca. 4.000 m2
Fertigstellung: 2016
Errichtungskosten: 10 Mio. Euro