Zeitreise durch die Jahrhunderte
Der Rundgang durch das Museum entführt auf eine Zeitreise durch knapp 7.000 Jahre europäische Kunstgeschichte, beginnt mit archäologischen Fundstücken aus dem Neolithikum und reicht bis in die Gegenwart. Aber erst mit der bislang letzten Erweiterung der Ausstellungsfläche ist es möglich, auch den umfangreichen Fundus an zeitgenössischer Gegenwartskunst zu zeigen. Nicht weniger kunstvoll als die Exponate ist auch die alte und neue Architektur, die von Herzog & de Meuron gestalterisch zu einer harmonischen Einheit zusammengefasst wurde.        Â
Das Unterlinden-Museum in Colmar blickt auf eine rund 800 Jahre währende Geschichte, die bis ins Hochmittelalter zurückreicht. Ursprünglich in der Mitte des 13. Jahrhunderts als Dominikanerinnenkloster errichtet, durchlebte der heutige Museumskomplex aus mehreren Einzelbaukörpern eine wechselhafte Geschichte. Die unterschiedlichen Nutzungen reichten im Laufe der JahrhunÂderte von der liturgischen Nutzung als Kirche und Kloster des Predigerordens über die Verwendung als Militärkaserne bis hin zur musealen Nutzung, die vor allem aus der Not heraus entstand und einen Totalabriss des Gebäudes verhinderte. Denn im Zuge der französischen Revolution zwischen 1789 und 1799 wurde auch das Kloster in Colmar aufgelassen und in den Folgejahren ein Großteil der Gebäude abgerissen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts die museale Nutzung und die Instandsetzung der noch verbliebenen Gebäude beschlossen wurde. Nur wenige Jahre nach der Umwidmung wurde das Museum als „Monument historique“ klassifiziert und unter Denkmalschutz gestellt. Â
Museales GesamtkunstwerkÂ
Heute zählt Unterlinden zu den bedeutendsten und meistbesuchten Museen in ganz Frankreich, nicht zuletzt wegen seines wohl bekanntesten Exponates, dem weltberühmten Isenheimer Altar von Matthias Grünewald aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. Darüber hinaus beherbergt das Haus aber auch eine der größten Sammlungen von Gemälden und Skulpturen aus dem Mittelalter und der Renaissance, zahlreiche archäologische Artefakte vom Neolithikum bis in die Zeit der MeroÂwinger und eine der umfangreichsten Gemäldekollektionen aus dem 19. Jahrhundert. Für den Fundus zeitgenössischer Kunst blieb damit kaum noch Platz und so wurde diese bis zur jüngsten Erweiterung in den Jahren 2012 bis 2015 nur selten im Rahmen von kleinen Wechselausstellungen gezeigt. Heute verfügt das Museum über eine auf rund 8.000 Quadratmeter erweiterte Ausstellungsfläche, womit auch die zeitgenössische Kunst in die Dauerausstellung Einzug gehalten hat.
Mit der schwierigen Aufgabe die unterschiedlichen Bau- und Stilepochen sowohl räumlich als auch gestalterisch zusammenzufügen, wurde das Schweizer Architektenteam rund um Jacques Herzog und Pierre de Meuron beauftragt. Trotz der unterschiedlichen Stile, Bauepochen und Raumzuschnitte, die den Innenraum bilden, ist es den Architekten gelungen, eine stimmige Gesamtkomposition in einer einheitlichen Architektursprache zu realisieren. Hauptverantwortlich dafür ist die Gestaltung der Raumoberflächen mit Gipsprodukten – angefangen bei den notwendigen Zwischen- und Trennwänden in Trockenbauweise über die Bekleidung von Decken bis hin zu dreidimensional vorgefertigten Formteilen oder dem Putz, der je nach Erfordernis und Untergrund einmal ganz Âtraditionell und von Hand, ein andermal mit faserverstärktem Gipsputz für erhöhte Beständigkeit oder besonders beanspruchte OberÂflächen ausgeführt wurde.
Zurückhaltende Architektur
Die Schaffung einer gestalterischen Einheit, die im Innenraum über die sehr homogene Materialverwendung an den Oberflächen erreicht wurde, spiegelt sich auch außen wider. Nach Umbau, Renovierung und Erweiterung besteht der neue Museumskomplex aus zwei Gebäudeensembles, die einander gegenüberstehen und dem Place Unterlinden einen neuen Rahmen geben. Auf einer Seite des Platzes dominieren die Reste des mittelalterlichen Konvents und die Kirche, mit einem offenen Kreuzgang, einem Brunnen und dem zum Museum-Klosterkomplex gehörenden Garten. Dem gegenüber steht der neue Museumsbau, der die Kubatur der Kirche aufnimmt und zusammen mit dem ehemaligen, 1906 errichteten Badehaus im Jugendstil einen zweiten Hof ummauert. Ãœber einen unterirdischen Gang – der als Galerie fungiert – sind die beiden Gebäudeensembles miteinander verbunden. Ãœber einen weiteren Neubau – das so genannte „Kleine Haus“ – wird der unterirdische Galerietunnel mit Tageslicht versorgt. Ãœber die beiden Fenster kann man einen Blick auf die Ausstellungsräume in der Tiefe erhaschen. ÂErrichtet wurde das Kleine Haus an der Stelle, wo vor Jahrhunderten einmal eine Mühle stand und zusammen mit den Wirtschaftsgebäuden und den Stallungen an der Stelle des neuen Museumszubaus den so genannten Ackerhof der Klosteranlagen formte, der heute Namensgeber für den Zubau ist.
Angepasste Materialien
An die Formen- und Materialsprache des Bestandes angepasst, übernimmt das neue Ackerhof-Gebäude nicht nur die Kubatur der Kirche, sondern auch die Materialität. So ist das traditionelle Walmdach mit Kupfer eingedeckt und an der Fassade verweisen die wenigen Fensteröffnungen mit ihren Spitzbögen an den gotischen Ursprung des Kloster- bzw. Museumsbaus. Besonders aufwändig ist auch die Fassade der Neubauten: Diese wurde als vorgesetztes Verblendmauerwerk aus insgesamt 75.000 Lochziegeln hergestellt. Dabei wurden die Lochziegeln von Hand in der Mitte auseinandergebrochen und mit der Bruchseite nach außen im Binderverband vor die Fassade gemauert. Selbst bei der Farbgebung wollten Herzog & de Meuron nichts dem Zufall überlassen und so entwickelten sie gemeinsam mit dem Ziegelhersteller einen Sonderfarbton, der durch die Zugabe von Sand, Kohle und Salz nach dem Brand rötliche, violette und grünliche Schimmer in der Ziegelmatrix erzeugt.    Â
Kunst trifft Handwerk
Die Schaffung der entsprechenden Hülle für die Kunst erforderte auch von den ausführenden Unternehmen einiges an Handwerkskunst – allen voran, die mit dem Innenausbau betraute Werey & Stenger Gruppe, die im Alt- sowie im Neubau für den gesamten Trockenbau sowie alle Putzarbeiten verantwortlich zeichnete. Alleine schon die schiere Größe und der Arbeitsumfang machen das Unterlinden-Museum zu einem Ausnahmebauwerk für den Innenausbau: Insgesamt über 14.000 Quadratmeter Gipskartonplatten wurden im Projekt verarbeitet. Dazu kam eine Gesamtfläche von rund 6.400 Quadratmetern, die vom Montageteam verputzt werden musste. Trockenbau und Innenputz zusammen ergeben einen Materialeintrag von über 82 Tonnen in Alt- und Neubau.
Eine der größten handwerklichen Herausforderungen ergab sich aus den vielen hochkomplexen Formen, die die Architekten ersonnen haben, um Alt und Neu zu einer architektonisch-gestalterischen Einheit zusammenzufassen. So finden sich auch im Neubau zahlreiche Wand- und Mauernischen, auch die Türdurchgänge sind angelehnt an den gotischen Stil, wie Spitzbögen gestaltet mit Kurven als Ãœbergang von der geraden Wand zum zurückgesetzten Türstock. Zu den sowohl baulich als auch verputztechnisch aufwändigsten neuen Einbauten zählt die Wendeltreppe, die den Besucher zur unterirdischen Passage führt, die den Altbestand mit dem neuen Ackerhofgebäude verbindet. Diese Treppe, die sich über mehrere Geschoße erstreckt, sollte sich für die Besucher nicht gleich auf den ersten Blick als neues Element – gegossen aus Stahlbeton – zu erkennen geben. Eine dementsprechende Putzgestaltung mit historisch anmutender Putzmatrix, weichen Kanten und sanften Ãœbergängen soll den Eindruck eines Bauteils erwecken, der schon immer da war.  Â
Im Einklang mit dem Denkmalschutz
Doch selbst der Altbau für sich genommen hielt einiges an Komplexität für die Handwerker bereit, wie zum Beispiel die Putzausbesserungen in luftiger Höhe des historischen Kirchengewölbes mit aufwändig zu sanierenden Kreuzrippengewölben. Dabei verliefen alle Arbeiten unter den gestrengen Augen und in direkter laufender Absprache mit den Denkmalschützern. So mussten beispielsweise alle Putze im Bestand analysiert werden, um für jede Oberfläche die entsprechende Putzzusammensetzung, Farbe und Oberflächenstruktur exakt nachbilden zu können. Vor der Aufbringung mussten alle Putzmaterialien von den Denkmalschützern genehmigt und für die Verarbeitung freigegeben werden. Dass dabei im Altbestand vollständig auf den Einsatz von Maschinenputz und stattdessen nur Handarbeit zugelassen war, versteht sich von selbst!   Â
Städtebauliches Upgrade
Nach der Fertigstellung der Bauarbeiten am Museum selbst ist auch der Place Unterlinden kaum wiederzuerkennen! Die unattraktive Bushaltestelle samt Parkplatz gehört endgültig der Vergangenheit an. Stattdessen präsentiert sich der Bereich zwischen den beiden Gebäudeensembles des ÂMuseums als attraktiver urbaner Platz mit hohen Aufenthaltsqualitäten – allen voran die verkehrsfreie Lage. Zentrales Element ist heute der „Canal de la Sinn“, der unter der gesamten Altstadt hindurchfließt und hier am Place Unterlinden, wie auch schon andernorts, geöffnet wurde und als Wasserfläche mit beidseitig begleitenden Sitzstufen zu-tage tritt. Eine gestalterische Verknüpfung vom Museumsvorplatz, dem Kloster samt Kirche und den neu hinzugefügten Bauteilen von Schwimmbad und Ackerhof gelingt durch die durchgehend mit Pflasterklinker belegte Bodenfläche.                 Â
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Zitat:
„Bemerkenswert ist auch, dass alte und neue Architekturteile erst bei genauem Hinsehen unterschieden werden können.“
Architekt Pierre de Meuron
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FAKTEN:
Musée Unterlinden
Place Unterlinden, 68000 Colmar (FR)
Bauherr: Stadt Colmar (FR)
Planung: Herzog & de Meuron, Basel (CH), www.herzogdemeuron.comÂ
Fassadenplanung: PPEngineering, 4052 Basel
Trockener Innenausbau und Putzarbeiten: Werey Stenger Plâtre, 67100 Strasbourg
Wettbewerb: 2009
Bauzeit: 2012 – 2015
Nettonutzfläche vor der Erweiterung: 5.800 m2
Nettonutzfläche nach der Erweiterung: 7.800 m2