Wie Phönix aus der Asche
Dazu kommen aufwändige Abbaumethoden, energieintensive Herstellungsverfahren und jede Menge Schwertransporte. Abbau, Transport, Aufbereitung, Erzeugung und Weiterverarbeitung von Baustoffen hinterlassen einen überdeutlichen ökologischen Fußabdruck. Dabei liegt die Lösung für mehr Ressourceneffizienz am Bau so nah – quasi vor der Baustellentür: die Wiederverwendung oder Weiterverwertung von schon einmal aufbereiteten und verbauten Rohstoffen aus Gebäudeabbrüchen.        Â
Stahlteile aus einem Kohlekraftwerk, Bruchglas aus dem Glascontainer, am Boden mineralischer Bauschutt und jede Menge Plastikabfälle. Was wie die Bestandsaufnahme einer Sondermülldeponie klingt, ist in Wahrheit der Mehrwertpavillon auf der deutschen Bundesgartenschau 2019 in Heilbronn. Das innovative Bauprojekt wurde zu annähernd 100 Prozent aus Abbruchmaterialien und Recyclingstoffen aus dem Glas- bzw. Kunststoffcontainer errichtet. Idee, Planung und Umsetzung des Mehrwertpavillons stammt von Architekturstudenten des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Initiator des Projekts ist Dirk E. Hebel, Professor am Institut für Nachhaltiges Bauen am KIT, der das Projekt beispielgebend für die Zukunft des Bauens im 21. Jahrhundert sieht: „Das Umdenken muss dahin gehen, dass wir verstehen, dass wir bereits eine unglaubliche Reserve an Baumaterialien haben. Und das ist unsere gebaute Umwelt.“ Eine Reserve, die bislang weitgehend ungenutzt bleibt. „Rohstoffgewinnung aus der Erde, Aufbereitung, Einsatz in einem Gebäude, Nutzung für eine beschränkte Zeit, Abbruch, Deponierung oder Verbrennung: Das ist unser gängiges Wirtschaftsmodell – auch im Bauwesen“, so Hebel. Anstelle dieser Wegwerfkultur muss eine neue Form der Kreislaufwirtschaft treten. Das heißt: „Wir müssen Abbruchmaterialien endlich als Ressource für künftige Bauaufgaben sehen und nutzen!“
Urban MiningÂ
Seit jeher verbraucht der Mensch Bodenschätze aus der Erde. Waren es im 19. Jahrhundert in Summe aber noch rund 10 Kilogramm täglich pro Kopf, die der durchschnittliche Mitteleuropäer konsumiert hat, so liegt der Wert heute beim Vierfachen Pro-Kopf-Verbrauch – und das bei einer deutlich angewachsenen Bevölkerungszahl.
Urban Mining – die urbane Mine – stellt die wohl vielversprechendste Alternative zum endlosen Verbrauch endlicher Ressourcen dar. Nicht zuletzt hat die Corona-Krise gezeigt, wie abhängig gerade Europa von Ressourcen aus dem EU-Ausland ist. Die Senkung dieses Ressourcenverbrauchs verringert nicht nur die Abhängigkeit von Rohstoffimporten, sondern ist ein wesentlicher Beitrag zu Klima- und Umweltschutz. Denn je mehr Rohstoffe aus der gebauten Umwelt gewonnen werden, umso weniger werden die Reserven in Primärlagerstätten ausgebeutet und umso weniger Energie muss für die Herstellung aufgewandt werden. Denn vielfach ist das Recycling weit weniger energieintensiv als die Gewinnung und Herstellung neuer Bauprodukte.
Auch aus rein wirtschaftlicher Sicht macht Recycling oder Re-Use – die direkte Weiterverwendung von Produkten ohne Recyclingerfordernis – Sinn. Denn angesichts des hohen Rohstoffverbrauchs der Konsumgesellschaft schrumpfen die Reserven in natürlichen Lagerstätten rasant. Das resultiert in einem erhöhten Wettbewerb und weiteren kontinuierlichen Preissteigerungen am internationalen Rohstoffmarkt. Auf der anderen Seite führt derselbe Appetit nach Rohstoffen gleichzeitig dazu, dass der Bestand an Sekundärrohstoffen – also Rohstoffen, die bereits aus natürlichen Lagerstätten gewonnen, aufbereitet und verbaut wurden – immer weiter anwächst. So übertrifft laut Schätzungen des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) beispielsweise die Menge an Kupfer, die in der Stadt, in Autos oder elektronischen bzw. Elektrogeräten verbaut ist, mittlerweile das Vorkommen in den natürlichen Lagerstätten.Â
Bauen mit Müll?
Will man die Bauwirtschaft bzw. das Bauen an sich zukunftsfähig und nachhaltig machen, führt kein Weg vorbei an der effizienten Kreislaufwirtschaft. „Die verwendeten Materialien werden nicht verbraucht und dann entsorgt, sondern nur für eine bestimmte Zeit aus dem Kreislauf entnommen und später wieder zurückgeführt“, erläutert Hebel die Idee, die dahintersteht.Â
Dass sich diese Vision auch in gebaute Realität umsetzen lässt, beweist ein innovatives Bauprojekt, das Hebel gemeinsam mit Felix Heisel, Forschungsverantwortlicher des Fachgebiets Nachhaltiges Bauen am KIT, und Werner Sobek, Architekt und Leiter des Instituts für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart, konzipiert, geplant und realisiert hat: NEST steht für „Next Evolution in Sustainable Building Technologies“ und ist eine Art Experimentallabor für Recycling und Re-Use von „Baumüll“. Errichtet wurde das unkonventionelle Bauwerk auf dem Gelände der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa in Dübendorf in der Schweiz. Im NEST wird Neues unter realen Bedingungen demonstriert, validiert, verbessert und laufend weiterentwickelt. Mit dem Ziel, die Lücke zwischen (Bau-)Technologien, die im Labor funktionieren, und zuverlässigen, marktreifen Produkten zu schließen. Im NEST kooperieren nationale und internationale Forscherteams aus Universitäten und Fachhochschulen, Architekturbüros und innovative Unternehmen aus der Baubranche, die in den unterschiedlichen Units arbeiten, forschen und wohnen.   Â
Kreislauf- statt Abfallwirtschaft
Als zentrale Tragstruktur – oder sogenannter „Backbone“ – des NEST fungieren drei offene Plattformen, auf denen einzelne Forschungs- und Innovationsmodule (Units) nach dem Plug-&-Play-Prinzip installiert bzw. unabhängig voneinander auch wieder deinstalliert werden können. Die insgesamt siebte und bis dato jüngste Erweiterung wurde Ende 2018 realisiert und trägt den Namen „Urban Mining and Recycling Unit“ (UMAR). Sie ist Versuchslabor und Schaufenster für Materialien und Verfahrenstechniken der nachhaltigen Kreislaufwirtschaft zugleich. Bei der Produktion wurde vor allem auf leicht wieder zu trennende Materialkombinationen sowie neue Recyclingprodukte gesetzt. Deshalb wurde auf jedwede Klebeverbindung sowie Verbundstoffe gänzlich verzichtet. Stattdessen setzt sich ein Großteil von UMAR aus Rezyklaten zusammen, die ausschließlich aus Altstoffen oder nachwachsenden Rohstoffen gewonnen wurden, wie Lehm, Stroh oder Birkenstock. Sowohl das Tragwerk als auch die Fassade wurden von der Zimmerei und Tischlerei Kaufmann GmbH aus Reuthe in Vorarlberg weitgehend aus unbehandeltem Holz gefertigt, um am Ende des Lebenszyklus problemlos rückgebaut und im besten Fall einfach weiterverwertet werden zu können. Â
Re-Use zum Angreifen
Altes beim Bauen wiederzuverwenden ist auch der Gedanke, der hinter dem Altholz-Ideenhaus im oberösterreichischen Inzersdorf im Kremstal steht. Seit über 20 Jahren setzt Hubert Baumgartner mit seinem Unternehmen „Altholz“ auf die Wiederverwertung von Abbruchmaterialien und beschränkt sich dabei nicht nur auf den Werkstoff Holz. Im Ideenhaus erzählt jeder Ziegel, jeder Stein, jedes Brett und jeder Balken eine Geschichte, selbst die Fliesen in Bädern stammen aus Wiener Abbruchhäusern. Architekt Ernst Pitschmann hat sich bei diesem Projekt vorrangig auf die Planung beschränkt, die Materialwahl bzw. die Materialsuche blieb ganz dem Bauherren überlassen. „Wir haben hier ein neues Haus ausschließlich mit alten Materialien gebaut. Diese haben eine Geschichte, eine Haptik und erzeugen eine unvergleichliche Atmosphäre, die man mit neuen Produkten nicht nachbauen kann“, ist Baumgartner überzeugt. Vor allem beim Holz kann Baumgartner aus dem Vollen schöpfen. In seinem Materiallager finden sich Hölzer aus halb Europa – aus Abbruchhäusern, alten Stadeln oder Scheunen. Allesamt Einzelstücke, die es so kein zweites Mal gibt. Um die Idee, Altes wiederzuÂverwenden und so den Lebenszyklus zu verlängern und gleichzeitig Müllberge zu verringern, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, finden sich im Ideenhaus nicht nur Gästewohnungen, sondern wurde Mitte September mit „Der Baum“ auch ein eigenes Seminarzentrum fertiggestellt und eröffnet. Und natürlich steht auch hier der Recycling- und Re-Use-Gedanke im Vordergrund: Alle in der Konstruktion, der Fassade und selbst bei der Möblierung verwendeten Hölzer sind zumindest schon einmal verbaut gewesen und wurden lediglich von Nägeln und Schrauben befreit, gewaschen, gereinigt und evtl. sandgestrahlt.Â
Müllberg oder Schatzkiste
Welche Schätze in alten Abbruchhäusern verborgen liegen, die nur allzu oft unbeachtet und ungenutzt im Müll landen, weiß man mittlerweile auch schon auf höchster Ebene. Wie zum Beispiel in der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die zu den größten heimischen Immobilieneigentümern und -verwaltern zählt und nicht nur laufend neue Projekte entwickelt, sondern davor auch für den Abbruch von Altbeständen Sorge trägt. Beim Abbruch des ehemaligen Wien Energie Zentrums, das dem neuen MedUni Campus Mariannengasse in Wien-Alsergrund Platz macht, setzt die BIG auf eine Kooperation mit dem Abbruch-Verwertungsunternehmen BauKarussell. „Wir wollen mit dieser Kooperation einen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft leisten. Wir erwarten uns Âeinen deutlichen ökonomischen und ökologischen Mehrwert gegenüber dem konventionellen Ablauf von Abbruch und Entsorgung“, so BIG-Geschäftsführer Hans-Peter Weiss.
Rund ein Jahr lang wurde der alte Bürokomplex der Wien Energie leer geräumt und nicht nur nach Stör- und Schadstoffen im Sinne der Recycling-Baustoffverordnung gesucht, sondern auch nach allem, was in den Baustoffkreislauf zurückgeführt und andernorts ohne große Aufbereitungsmaßnahmen wieder verbaut werden kann. Die Bandbreite reicht dabei von alten Waschbecken und Sanitär- oder Bodenfliesen über Kinosessel und Beamerleinwände, Wendeltreppen und Flügeltüren bis hin zum Paternoster aus der Gründerzeit. All diese Produkte listet BauKarussell im eigenen Re-Use-Bauteilkatalog auf.
Beim Recycling die Nase vorn
Seitens der Forschung wird laufend an der Â(Weiter-)Entwicklung der Richtlinien und Leitfäden zur Kreislaufführung gearbeitet, um die Weiterverwertungsquote deutlich zu erhöhen und Baustoffe damit wesentlich länger im Stoffkreislauf zu halten. Noch steckt Urban Mining in den Kinderschuhen, am Datenmaterial für die Erfassung der urbanen Minen wird aber bereits eifrig gearbeitet. Damit Städtebau und Architektur in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft in puncto Recycling und Re-Use tatsächlich aus dem Vollen schöpfen können und nicht mehr nur einzelne Idealisten an der Oberfläche von Müllbergen kratzen.
Â
NACHHALTIGKEITSSTRATEGIE
Saint-Gobain fördert nachhaltiges Bauen – mit Fokus auf Energieeffizienz in Gebäuden sowie der Entwicklung von ökologischen und innovativen Lösungen und Systemen. Bei der Entwicklung und Produktion berücksichtigen wir die Umweltauswirkungen in jeder Phase des Lebenszyklus – das gilt für den Konzern ebenso wie für die Tochterunternehmen. So können beispielsweise Rigips Gipskartonplatten zu annähernd 100 Prozent recycelt oder die Bestandteile des Zero-Waste-Wärmedämmverbund-Systems „weber.therm circle“ nach dem Rückbau sortenrein getrennt und wiederverwertet werden. Wiederverwertung spielt auch beim Dämmstoff „Ultimate“ von ISOVER eine entscheidende Rolle, denn dieser wird nicht nur schadstoffarm, sondern auch zu 95 % aus natürlichen Rohstoffen und Recyclingmaterial hergestellt.     Â
Mit der Simulation Dasher 360 kann man auf eine virtuelle Entdeckungstour durch die Räume des NEST gehen: www.dasher360.com/share/3Woc9yknY                              Â