Orte der Kraft
Bildungseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Universitäten sind mehr als nur eine Hülle, in der Wissen vermittelt wird. Hier finden Freundschaft, Begegnung, soziales Handeln und Denken statt, in einem Raum, der einzigartig ist. Oder es sein sollte. Dr. Franz Hammerer beschäftigt sich seit Jahren mit der Beziehung von Lernen und Raum und unterstützt Schulen bei Neu- oder Umbauten in der Entwicklung eines pädagogisch-räumlichen Konzepts. Im Interview erzählt er, warum es so wichtig ist, die Architektur in die Bildung miteinzubeziehen.
Von Barbara Jahn
Weiss: Bildung und alles, was damit zusammenhängt, hat schon immer die Gemüter gespalten. Das betrifft natürlich auch die Architektur. Was braucht es Ihrer Meinung nach ganz grundsätzlich, um den idealen Rahmen für Menschen – egal ob groß oder klein – zu schaffen, denen man Wissen vermitteln will?
Franz Hammerer: Ausgehend von der Grundeinsicht, dass Bildung immer den ganzen Menschen im Auge haben muss, also Hand, Herz und Verstand formen soll, gilt es, einen Rahmen zu schaffen, der inspirierend ist für vielfältige Lernaktivitäten. Bildungseinrichtungen können Kraftorte für Lebensgestaltung sein, wenn wir sie als Arbeits- und Lernlandschaften, als Orte zum ÂVerweilen, als Orte der Begegnung gestalten. Dies erfordert jedoch eine Neuinterpretation und Neugestaltung von Lernräumen.      Â
Weiss: Sie waren selbst lange Pädagoge und in der Lehrerausbildung tätig. Warum hat sich das Klassenzimmer in den letzten 100 Jahren – bis auf wenige Ausnahmen – so wenig weiterentwickelt?
Franz Hammerer: Ja, das ist wirklich erstaunlich, denn es gab bereits um 1900 reformpädagogische Ansätze, wie z. B. die Montessori-Pädagogik oder die Freinet-Pädagogik, die für ihre neuen ÂBildungskonzepte veränderte Räume forderten und auch realisierten. In Amerika fand in den Âspäten 1960er Jahren das Konzept des „Open Classroom“ eine Umsetzung. In Österreich wurde lange Zeit als gegeben hingenommen, wie ÂSchulen gebaut und Klassenzimmer eingerichtet waren. Sie waren an Kasernenbauten orientiert und pädagogisch auf Einordnung und Unterordnung ausgerichtet. Auch die ab den 1960er Jahren gebauten Gangschulen sind keine Lernlandschaften, sondern hintereinander aufgefädelte Klassenräume, davor weiträumige Gänge. Pädagogisch wurde das Konzept des Lernens nach dem „Nürnberger Trichter“ – alle sollen zur gleichen Zeit mit den gleichen Methoden das Gleiche lernen – angestrebt. In solchen Schulen, es gibt sie leider nach wie vor, besteht der einzige Drang Âdarin, möglichst schnell wieder hinauszukommen. Â
Weiss: Muss Schule neu gedacht werden?
Franz Hammerer: Viele Beispiele im In- und Ausland zeigen, Schule wird schon neu gedacht und gelebt. Ich denke z. B. an die vielen Schulen, die im Rahmen der Initiative „Schule im Aufbruch“ neue Wege beschreiten, die Schulen zu kindorientierten Lern- und Lebenswelten umgestalten – inhaltlich und räumlich. Schulentwicklung, Unterrichtsentwicklung und eine neue räumliche Gestaltung gehen hier Hand in Hand. Das Bild vom Kind und seiner Entwicklung hat sich verändert und findet in Lernkonzepten, die auf Aktivität, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit ausgerichtet sind, eine Entsprechung. Trotzdem besteht diesbezüglich in vielen Schulen noch ein großer Nachholbedarf.
Weiss: Sehen Sie mit diesem „Stillstand“ einen Zusammenhang mit einer doch eher trägen WeiterÂentwicklung der Pädagogik?   Â
Franz Hammerer: Ja, die Schule ist als eine große und mächtige Institution von verschiedenen gesellschaftlichen Ansprüchen durchdrungen – das Schulsystem ist ein träger Dampfer. Die Pädagogik jedoch, und hier besonders die Grundschulpädagogik, aber auch die Psychologie haben in den letzten Jahrzehnten Konzepte entwickelt, die neueste Erkenntnisse zur Entfaltung von Potentialen, Neigungen und Fähigkeiten von Kindern und ÂJugendlichen aufgreifen und pädagogisch-didaktisch fruchtbar machen. Die Lehrerbildung müsste hier noch konsequenter an der Implementation ins Schulwesen arbeiten. Zum Stillstand in Bezug auf Raumgestaltung: Lange Zeit war in der Pädagogik der Raum kein Thema – das ändert sich jetzt.
Weiss: Hätten neue, innovative Lehransätze und -konzepte nicht automatisch eine deutlich wahrnehmbare Weiterentwicklung nach sich ziehen müssen? Â
Franz Hammerer: Auf jeden Fall! Wir verstehen heute Lernen als einen aktiven, selbstgesteuerten Prozess, der sich individuell und in sozialen BezüÂgen vollzieht. Im Lernprozess ist der Raum neben den anderen Kindern und der Lehrperson der „dritte Erzieher“. Was heute die pädagogische ÂArbeit in einer Schule erfordert, ist nicht mehr über einen traditionellen Klassenraum mit 63 m2 zu bewältigen. Schulen als „Treibhäuser der Zukunft“, wie Reinhard Kahl zukunftsweisende Schulen bezeichnet, müssen vielfältig differenzierte und ästhetisch anspruchsvoll gestaltete Lebens- und Erfahrungsräume sein. Es gibt jedoch Innovationsantreiber im Bildungsdiskurs, die auch Raumveränderungen unabdingbar machen: Ganztagsschule, eine neue Lernkultur mit einer großen Vielfalt an Lern- und Unterrichtsformen, Inklusion, vermehrte Arbeit im Lehrerteam.
Weiss: Welche Empfehlungen geben Sie ArchiÂtekten, die eine Schule, einen Kindergarten, eine Bibliothek zu planen beginnen?
Franz Hammerer: Arbeiten Sie eng mit den Nutzerinnen und Nutzern zusammen und planen Sie, wo immer möglich, unbedingt eine „Phase Null“, einen Beteiligungsprozess ein, über den ein pädaÂgogisch-räumliches Konzept ausgearbeitet wird. Beachten Sie: Wer eine Schule umbaut, muss an eine neue Schule denken, wer eine neue Schule baut, muss an das Leben und Lernen der Kinder und Jugendlichen denken.Â
Weiss: Wie sieht nach Ihren Thesen die ideale Schule, das ideale Klassenzimmer aus, um wirklich zeitgemäßen Unterricht gestalten zu können?    Â
Franz Hammerer: Ich wünsche mir eine Schule, die bereits beim Betreten vermittelt: Hier bist du willkommen! Die Aula ist kein unwirtlicher Verkehrsverteilerraum, sondern das pulsierende Herz der Schule. Das Schulzentrum Feldkirchen an der Donau ist dafür ein gelungenes Beispiel. Die Klasse als einziger Lernort hat ausgedient. Klassenräume stehen mit anderen Lernzonen so in Verbindung, dass sie ein Kontinuum miteinander in Beziehung stehender Lern- und Erfahrungsräume bilden. Dadurch können Schülerinnen und Schüler gleichzeitig an verschiedenen Orten an ihren individuellen oder gemeinsamen Lernaufgaben arbeiten. Dafür notwendig ist Transparenz zwischen den einzelnen Zonen. Die Klasse selbst muss sich besonders hinsichtlich der Möbel wandeln, denn diese sind „Mit-Akteure“ und können sowohl auf der Person- als auch der Objektebene unterstützen, behindern, anbieten, ermutigen, nahelegen, ausschließen usw. So sieht man in vielen Klassen nach wie vor, dass Doppeltische in Reih und Glied, in „Busformation“, aufgestellt werden und dadurch eher Frontalunterricht als andere Unterrichtsformen unterstützen. Leichte Einzeltische und Rollsessel hingegen sind flexibler und lassen einen schnellen Wechsel zwischen Einzelarbeit, Partnerarbeit und Gruppenarbeit zu.
Weiss: In welchem Ausmaß kann Raum/Architektur im Sinne der Bildung stimulierend auf die Auszubildenden wirken und in welcher Weise?   Â
Franz Hammerer: Der Einfluss der SchularchitekÂtur auf das Lernen und Verhalten von Schülerinnen und Schülern ist in verschiedenen Untersuchungen gut belegt. So haben insbesondere die Farbgebung und Lichtführung in Schulen, die Luftqualität und Schallqualität sowie die Möblierung Auswirkungen auf Lernleistungen und das Wohlbefinden.* Es ist auch nachgewiesen, dass es in positiv erlebten Schulumgebungen weniger Schulvandalismus gibt. Ästhetische Anspruchslosigkeit kann zu einer Abwärtsspirale auf allen Ebenen führen. Hingegen unterstützen das Wohlbefinden und atmosphärische Qualitäten berücksichtigende Lernumwelten den Lernerfolg und das Sozialverhalten.
Weiss: Braucht es streng geteilte Klassenzimmer eigentlich noch?
Franz Hammerer: Nein! Das Klassenzimmer in seiner ursprünglichen Form und Funktion hat ausgedient. Lernräume müssen sich zu anderen Zonen und anderen Klassen- oder Gruppenräumen hin öffnen und mit diesen eine Lernlandschaft bilden. Bei vielen gelungenen Schulneu- oder Schulumbauten der letzten Jahre hat sich der Clustertyp durchgesetzt. In diesem Konzept wird eine „große Schule“ über ein Clustermodell in mehrere „kleine Schulen“ gegliedert. In einem Cluster gruppieren sich in der Regel zwei bis vier Klassen um einen offenen Lern- und Arbeitsbereich, oft Marktplatz genannt, der von allen Gruppen genutzt werden kann. In einem Cluster integriert sind in der Regel auch ein eigener Teamraum für die Lehrenden sowie eine eigene Garderobe, Sanitärräume und ein Lager. Wo immer möglich, werden direkte Zugänge zu Terrassen oder anderen Freibereichen geschaffen. Â
Weiss: Welche realisierten Beispiele kommen Ihnen in den Sinn, die wirklich gelungen sind und einen anderen, zukunftsorientierteren Weg gehen?
Franz Hammerer: Zu den ersten Schulbauten nach diesem Clustertyp zählen in Österreich der vom Architekturbüro PPAG geplante Bildungscampus Sonnwendviertel mit einem Kindergarten, einer Volksschule und einer Mittelschule. Das Schulzentrum Feldkirchen an der Donau, geplant vom Büro fasch&fuchs , gehört aus meiner Sicht ebenso zu den Leuchtturmprojekten wie die Volksschule Maria Grün/Graz, geplant von Architekturwerk Berktold – Kalb. Eine besondere Dichte an gelungenen Schulbauten findet sich in Vorarlberg. Hier sei die „Schule am See“ in Hard, die Volksschule/Mittelschule Bregenz-Schendlingen, die Volksschule Lauterach/Dorf oder die Mittelschule Egg erwähnt.Â
Weiss: Welche Aufgaben hat sich die Plattform SchulUMbau gestellt? Â
Franz Hammerer: Die Plattform SchulUMbau ist ein Zusammenschluss von engagierten Personen aus den verschiedenen Bereichen um das Thema „Bildungsbauten und die Zukunft der Bildung“. Hervorzuheben ist die 2010 gemeinsam formulierte und veröffentlichte „Charta für Gestaltung von Bildungseinrichtungen des 21. Jahrhunderts“. Diese Charta wird inzwischen bei vielen Wettbewerben der Ausschreibung beigefügt.
Weiss: Worin sehen Sie Ihre Aufgabe und wer sind Mitstreiter?Â
Franz Hammerer: Die Mitwirkenden dieser Plattform sind in unterschiedlichen Initiativen aktiv und bilden ein loses Netzwerk; erwähnt sei etwa „Bildungslandschaften in Bewegung“ an der TU Wien oder die Plattform SchulRAUMkultur – bzw. die internationale Initiative PULS+, angesiedelt an der Kunstuniversität Linz, sowie das Projekt „Schule und Raum“ an der KPH Wien/Krems mit der Herausgabe der Publikationsreihe RaumBildung (www.raumbildung.at). Persönlich sehe ich meine Aufgabe in der Vortragstätigkeit zum Thema „Bildung für die Zukunft – dem Leben und ÂLernen RAUM geben“, in reger Publikationstätigkeit sowie in der Unterstützung von Schulen, ÂGemeinden und Architekturbüros in der Vorlaufphase, der „Phase Null“.                                      Â
* Zur raumakustischen Optimierung von Bildungsbauten siehe auch die Broschüre „Raumakustik in Schulen“ auf www.rigips.at
PERSON:Â
Dr. Franz Hammerer
 * 1956 in Egg/Vorarlberg
• Ausbildung zum Volksschullehrer an der PÄDAK in Feldkirch
• Studium der Pädagogik an der Universität Wien
• Bis 2018 Professor für Unterrichtswissenschaft an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems mit den Arbeitsschwerpunkten Unterrichtsplanung und -gestaltung, Lernen und Raum, Montessori-PädagogikÂ
• Publikationsreihe RaumBildung
• (www.raumbildung.at) in Zusammenarbeit mit Katharina Rosenberger
• Umfangreiche Vortragstätigkeit zum Thema „Bildung für die Zukunft – dem Leben und Lernen RAUM geben“ sowie Unterstützung von Schulen, Gemeinden und Architekturbüros bei Schulbauprojekten