Musealer Hochstapler
Gleichzeitig galt es aber auch, für die stetig wachsende Sammlung sowie die verstärkte Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit deutlich mehr Raum zu schaffen. Ein gestalterischer Spagat, den die Planergemeinschaft Certov, Winkler + Ruck Architekten mit einem Kubus lösten, der deutlich abgesetzt über dem Gebäude „schwebt“ und nicht nur die Ausstellungsfläche verdoppelt, sondern auch gut die Hälfte des Höhenbestands nochmals oben draufsetzt. Gebäudetechnisch beachtlich ist, dass der erweiterte Neubau mit wesentlich verbesserter Energieeffizienz punkten kann – nicht zuletzt auch wegen des Einsatzes von High-Tech-Verglasungen.
Die Teilnehmerliste am weltweit ausgeschriebenen Architekturwettbewerb zur Sanierung und Erweiterung des Wien Museums liest sich wie ein Who-is-Who der internationalen ArchitektenÂszene: Zaha Hadid Architects, Foster + Partners, Sou Fujimoto – insgesamt über 270 weitere Architekten und Planerteams von internationalem Rang und ÂNamen beteiligten sich am zweistufigen offenen Wettbewerb. Als Gewinnerin ging die Arbeitsgemeinschaft Winkler + Ruck Architekten mit Architekt Ferdinand Certov hervor, deren Entwurf sich durch den respektvollen Umgang mit dem Bestand, seine gestalterische Zurückhaltung und feine Detaillösungen auszeichnet – vor allem aber durch die Tatsache, dass er das „neue“ Wien Museum nicht nur gestalterisch, sondern auch funktional an den Karlsplatz Âanbindet und dabei sowohl eine Aufwertung für das Museum als auch für den Platz selbst schafft.
„Die Idee ist einfach und einprägsam“, erläutert Emanuel Christ von Christ Gantenbein Architects und Vorsitzender der Wettbewerbsjury. „In einer zeitlichen Stapelung wird der denkmalgeschützte Baukörper des Haerdtl-Gebäudes um eine ,lichte Stirn' ergänzt. Von dort aus, von der Terrasse des Wien-Raums, die wie eine transparente Fuge zwischen Alt und Neu inszeniert ist, hat man einen ÂPanoramablick über den Karlsplatz und über weite Teile der Stadt. Als Besucher nimmt man unweiÂgerlich eine Perspektive in der Schwebe ein und kann auf alles, was man vom Wien Museum aus Âerblickt, zurückblicken. Das Wien Museum tritt buchstäblich in einen offenen Dialog mit der Stadt. Eine so schöne wie funktionell sinnvoll Âgestalterische Geste“, so Christ weiter.
Hoch hinaus
Die Latte für das neue Wien Museum war hoch gelegt: Erhalt der historischen, denkmalgeschützten Bausubstanz, ein deutlicher Flächenzuwachs bei gleichzeitiger Schaffung einer zeitgemäßen Infrastruktur, die den komplexen konservatorischen Erfordernissen der historischen Exponate als auch den aktuellen Rahmenbedingungen einer modernen Ausstellungsgestaltung gerecht wird. Dabei sollten sowohl das Bestandsgebäude als auch der Neu- bzw. Zubau den hohen Ansprüchen an Nachhaltigkeit und Energieeffizienz Rechnung tragen.
Gelöst haben die Planer dieses umfangreiche Anforderungsportfolio mit einem über dem Bestand schwebenden Betonkubus und einem rundum verglasten Zwischengeschoß, das zwar funktional verbindet, gestalterisch aber eine deutliche Zäsur zwischen dem Haerdtl-Bau und dem neuen Aufbau schafft. So bleiben Alt und Neu getrennt und der denkmalgeschützte Unterbau optisch mehr oder Âweniger unverändert erhalten. Statisch ist der masÂsive Aufbau tief im ehemaligen überdachten Innenhof verankert. Dafür wurde im Atrium ein neues Fundament angelegt, bestehend aus einer bis zu vier Meter dicken Betonplatte auf 40 Bohrpfählen, die bis zu 40 Meter in den Boden ragen. Eine zehn Zentimeter breite Fuge stellt sicher, dass die beiden Gebäudeteile im Falle eines Erdbebens völlig unabhängig voneinander schwingen können.
Fassade mit „Makel“
Die Fassaden des Bestandsgebäudes sind dem Original aus den 1950er-Jahren nachempfunden und nur mit neuem Stein verkleidet, der auch wieder die nächsten hundert Jahre halten wird. Die Gestaltung mit einer Natursteinverkleidung aus verschiedenen Kalkstein- und Marmorflächen orientiert sich an den ursprünglichen Ideen von Oswald Haerdtl und gibt der Fassade zusammen mit den messingfarbenen Fensterrahmen ihre hochwertige Struktur wieder. Der Aufbau wächst aus dem Atrium des Haerdtl-Baus heraus und besteht aus einem mit Sichtbeton verkleideten Stahlfachwerk auf massiven Stahlbetonstützen. Durch das im Vergleich mit einer Massivkonstruktion deutlich geringere Gewicht des Schwebegeschoßes konnte auf zusätzliche Stützen, die den Bestand perforiert und damit das Innenleben massiv verändert hätten, verzichtet werden. Insgesamt wurden rund 1  150 Tonnen Stahlkonstruktion verbaut, die von den Betonstützen mittels ZugÂelementen abgehängt wurden.Â
Die Umsetzung gestaltete sich sowohl als bauliche als auch als logistische Herausforderung. Mit Urbas Stahl- und Anlagenbau wurde in Kärnten eine Firma gefunden, die Stahlelemente in einer unvorstellbaren Dimension bauen konnte. Der Transport der Stahlteile von Kärnten nach Wien musste über Slowenien erfolgen, da die Autobahnbrücken in Kärnten nicht ausreichend Traglast für die Schwerlasttransporte aufweisen. Für die Installation auf der Baustelle vor Ort wurde zu guter Letzt der größte Kran Österreichs nach Wien auf den Karlsplatz verfrachtet.  Â
Die vorgehängte Sichtbetonfassade des neuen Schwebegeschoßes behandelten die Betonbauer durch eine spezielle Schalung, die jeweils im Stoß dreieckige Rillen freilässt und damit die Gratstruktur an der Oberfläche erzeugt. Die Rillen wurden sorgfältig manuell nachbearbeitet, sodass feine Linien in unregelmäßigen Abständen die Wand herunterlaufen. Die Kanten der vertikalen Rillen wurden händisch abgeschlagen, um die gewünschte Optik einer rauen Schraffur und ein natürliches Schattenspiel zu erzeugen. Je nach Sonnenstand entsteht damit ein wechselndes Licht- und Schattenspiel an der Fassade, das die schwebende Anmutung des Betonblocks verstärken soll.
High-Tech-Verglasung
Eine spezielle High-Tech-Verglasung bei allen verglasten Öffnungen in der Fassade unterstützt die energetische Performance des Gebäudes. Dank der thermischen Sanierung der Bestandsfassaden und der Nutzung regenerativer Energien für Heizung und Kühlung ist das Wien Museum Karlsplatz annähernd energieautark.
Zum konservatorischen Erhalt der Ausstellungsstücke ist in der Regel eine aufwendige Klimatisierung notwendig. In Zusammenarbeit mit Restauratoren, Gebäudemanagern und Fachplanern wurden Möglichkeiten gesucht, den Energieverbrauch zu senken und trotzdem ein stabiles Raumklima zu garantieren. Zum einen wurde das Gebäude dafür in drei Klimazonen mit unterschiedlichen Anforderungen eingeteilt, die baulich voneinander getrennt sind und unabhängig voneinander funktionieren. Zum anderen entschieden sich Planer und Bauherrschaft für den Einsatz von SageGlass Classic in allen Glas-flächen zwischen Innen- und Außenraum. Das intelligent gesteuerte Sonnenschutzglas ermöglicht einen maximalen Tageslichteinfall bei minimalem Wärmeeintrag. Möglich wird das durch die Verwendung elektrochromer Gläser in Kombination mit Âeinem automatisierten Steuerungssystem, das die Helligkeit des Glases und damit auch den WärmeÂeintrag reguliert. In abgedunkeltem Zustand kann das dynamische Glas bis zu 96 Prozent der Wärmestrahlung abhalten. Allein damit kann die notwendige Kühl- und Beleuchtungsenergie im Wien Museum massiv reduziert werden.Â
Nachhaltig in jeder Hinsicht
Die wohl nachhaltigste Maßnahme beim neuen Wien Museum ist der Erhalt bzw. die Sanierung der alten Bausubstanz anstatt Abriss und Neubau – und die damit verbundene CO2-Ersparnis. „Wie geht man mit der vielfach unterschätzten Nachhaltigkeit – der Wiederverwendung des Altbestandes – um Bausubstanzen zu erhalten und zu erneuern und Methoden zu finden, wie wir unsere Städte auf Vordermann bringen, ohne massiv neue Ressourcen zu verbrauchen, ist ein Riesenthema in der Architektur“, ist Roland Winkler überzeugt.
Aber auch in puncto Energieversorgung haben sich die Planer einiges überlegt. So wird die für Beheizung und Kühlung erforderliche Energie mittels Geothermie über Tiefensonden im Untergrund des Gebäudes gewonnen. Damit erzielt das neue, erweiterte Gebäude eine Einsparung von über 60 Prozent im Vergleich mit dem Bestand vor Sanierung. Auch in Bezug auf den Primärenergiebedarf beträgt der Einsparungseffekt immerhin noch über 50 Prozent. Den Strombedarf des Hauses deckt zu Âeinem Gutteil die hauseigene Photovoltaikanlage auf dem Dach, die eine Jahresleistung von rund 115 000 Kilowattstunden einbringt.
Um die Ausstellungsexponate zu schützen, gelten im Wien Museum – wie in jedem anderem Museum auch – strenge Vorgaben in Bezug auf die Innenraumtemperatur und die relative Luftfeuchte im Gebäude. Das wirkt sich nachteilig auf die CO2-Bilanz aus. Dementsprechend ist die Einhaltung dieser Grenzwerte innerhalb der MuseumsCommunity seit langem stark umstritten. Das Wien Museum hat sich deshalb für den sogenannten ÂKlimakorridor entschieden. Das bedeutet, dass im Dauerausstellungsbereich keine starren Grenzwerte mehr angestrebt werden, sondern über das gesamte Jahr hinweg – innerhalb eines für die Objekte verträglichen Rahmens – ein Gleiten von Temperatur und relativer Luftfeuchte akzeptiert wird. Das bewirkt eine deutliche Reduktion des Energieverbrauchs und der CO2-Emissionen. Unterstützt wird diese Maßnahme baulich durch den neuen Eingangspavillon, der dem Museum vorgesetzt ist und wie ein riesiger Windfang als Puffer das jeweilige Außenklima nicht direkt in die Ausstellungsräume eindringen lässt. Zusätzlich sorgen die Bauteilaktivierung sowie Lehmbauplatten als Innenverkleidung an allen außenliegenden Wänden für eine ganz natürliche Regulierung der Raumfeuchte. Â
Mehrfach ausgezeichnet
Wenig verwunderlich, dass das Wien Museum pünktlich zur Eröffnung mit dem Österreichischen Umweltzeichen ausgezeichnet wurde. Erst im Juni dieses Jahres folgte auf das Umweltzeichen mit dem Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit eine zweite und gleichzeitig auch eine der höchsten Auszeichnungen, die die Republik zu vergeben hat. „Die Anforderungen an ein Museum des 21. Jahrhunderts sind vielfältig. Neben der Gestaltung zu einem niederschwelligen Ort für alle, muss es für die Herausforderungen, vor die uns die Klimakrise stellt, ausÂreichend gewappnet sein“, so das Planerteam.
Museum für alle
Ein Treffpunkt für alle will das neue Wien Museum sein. Schon bisher eines der meistbesuchten Museen Wiens, soll diese Erfolgsgeschichte durch den dauerhaft kostenlosen Zutritt zur Dauerausstellung weitergeschrieben werden. Dazu gehört auch die Barrierefreiheit der Ausstellungsräume, um bewegungseingeschränkten Besuchern und Besucherinnen ebenso wie sehbeeinträchtigten Menschen einen erfahrungs- und gewinnbringenden Museumsbesuch zu ermöglichen. So ist im neuen Gebäude der Haupteingang nun auch mit Rollstuhl oder Kinderwagen einfach zu passieren, zusätzlich führt eine taktile Bodeninformation durch die gesamte Dauerausstellung, um auch stark sehbeeinträchtigten und blinden Menschen eine selbstständige Fortbewegung zu garantieren. Und auch die Ausstellungsgestaltung selbst ist nach dem Mehrsinneprinzip gestaltet. Das heißt, dass es nicht nur Objekte hinter Vitrinen gibt, sondern auch solche zum Angreifen und Riechen, ergänzt um taktile Platten, in denen visuelle InforÂmationen – wie etwa ein Gemälde – tastbar gemacht wurden. Zusätzlich gibt es bei allen audiovisuellen Medien eine Ãœbersetzung in die österreichische Gebärdensprache. Für die weitere Entwicklung der inklusiven Ausstellungs- und Museumsgestaltung sorgt die hauseigene „Task-Force Barrierefreiheit“.Â
ZITAT:
„Das Projekt des Architektenteams ergänzt das Museum auf wunderbare Weise und setzt den Haerdtl-Bau neu in Szene. Mit der Eingangsfront und dem zum Platz öffnenden Café schafft es eine Architektur der ÂBegegnung.“
Matti Bunzl, Direktor des Wien Museums  Â
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FAKTEN:
Wien Museum
Karlsplatz 8, 1040 Wien
Bauherr:Â Museen der Stadt Wien, WienÂ
Generalplanung und Architektur:Â
ARGE Certov, Winkler + Ruck Architekten
Ferdinand Certov Architekten ZT GmbH, Graz
Winkler + Ruck Architekten ZT GmbH, Klagenfurt Â
Tragwerksplanung:
Bollinger + Grohmann ZT GmbH, Wien
Stahlkonstruktion:
Urbas Stahl- und Anlagenbau, VölkermarktÂ
Bauphysik: Pilz und Partner ZT GmbH, Wien
Generalunternehmer:
ARGE Porr Bau GmbH, Ortner GmbH, Elin GmbH
Baubeginn: 10. Juli 2020
Fertigstellung:Â 6. Dezember 2023
Baukosten:Â 108 Millionen Euro
Nettonutzfläche vor Umbau: 6 900 m²
Nettonutzfläche nach Umbau: 12 000 m²
Höhe Bestandsgebäude (Haerdtl-Bau): 16 Meter
Höhe nach Erweiterung/Dachaufbau: 25 Meter
PLANERGEMEINSCHAFT
Certov Architekten ZT GmbH, Graz
FERDINAND CERTOV, geb. 1966 in Klagenfurt, Studium der Architektur an der TU Graz, 1993 Diplom zum Thema Skulptur-Architektur.
Architekturbüro in Graz seit 1998.
Winkler + Ruck Architekten ZT GmbH, KlagenfurtÂ
ROLAND WINKLER, geb. 1965 in Klagenfurt, Studium der Architektur an der TU Graz, 1994 Diplom bei Prof. Giselbert Hoke. Architekturbüro in Klagenfurt seit 1998. Lehrtätigkeiten an der Universität Innsbruck und FH Spittal/Drau.
KLAUDIA RUCK, 
geb. 1966 in Weiz, 
Studium der Architektur an der
TU Graz, 1996 Diplom bei Prof. Giselbert Hoke. Architekturbüro in Klagenfurt seit 1998.
Das Projekt Wien Museum ist die erste Zusammenarbeit der beiden Architekturbüros. Beide eint eine ähnliche architektonische Grundhaltung. Charakteristisch für die Arbeiten von Roland Winkler und Klaudia Ruck sind kräftige und einfache, oft zeichenhafte Auseinandersetzungen mit Kontext, Tektonik, Materialität und Proportion. Unabhängig von der Bauaufgabe beweisen beide Architekturbüros große Eigenständigkeit, legen ihr Augenmerk auf hohe handwerkliche Qualität und schaffen ausgewogene, klare Architekturen, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurden.Â
Installation des neuen Stahlfachwerks für das Schwebegeschoß des Wien Museums:
https://youtu.be/GyJqUvEB5xQ