Echtzeit-Labor für vorbildlichen Wohnbau
Wie werden wir in Zukunft leben, arbeiten und vor allem wohnen? Eine Frage, die Städteplaner, Architekten und Politiker vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszahlen in den urbanen Ballungsräumen gleichermaßen beschäftigt. Antworten darauf soll unter anderem die Internationale Bauausstellung 2022 in Wien liefern.
Schon heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Ballungsräumen – Tendenz weiter steigend! Laut Prognose der UNO soll bis zum Jahr 2050 der Anteil der urbanen Bevölkerung weltweit auf 65 bis 70 Prozent anwachsen. Aber wie werden wir in Zukunft in diesen boomenden Agglomerationen leben und wohnen? Diese Frage beschäftigt Zukunftsforscher, Städte- und Raumplaner ebenso wie die Politik, die die Bereitstellung von lebenswerten Wohn- und Arbeitsumgebungen vor neue Herausforderungen stellt. Die Schaffung der erforderlichen technischen sowie sozialen Infrastruktur für die steigende Stadtbevölkerung sind dabei ebenso drängende Themen, die einer Antwort bedürfen, wie Fragen der Ökologie und des Umweltschutzes, Luftverschmutzung, Lärm und Schallschutz oder die sommerliche Überhitzung in einer sich aufheizenden Umgebung aus Beton, Stein und Asphalt. Nicht zuletzt geht es aber auch um das soziale Miteinander in Städten mit steigender Bevölkerungsdichte.
Wohnen im Spiegel der Zeit
Eine Antwort auf die Fragen zur Zukunft des Lebens in der Stadt will die Bundeshauptstadt Wien mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) im Jahr 2022 liefern. „Neues soziales Wohnen“ lautet der Titel für das internationale Großevent. Im April wurde mit dem Memorandum der Themenbogen vorgestellt, den die IBA zum Thema Wohnen und Leben in der Stadt spannen soll. „Mit dem nun vorliegenden Memorandum, das die soziale Komponente ins Zentrum rückt, ist der Grundstein und das Fundament für die Umsetzung der einzelnen Projekte gelegt“, erläutert Dr. Michael Ludwig, Wohnbaustadtrat Wien und IBA-Präsident. Hierbei kann Wien aus dem Vollen schöpfen und auf ein breites Spektrum unterschiedlicher (Wohn)Bauprojekte mit sowohl sozialem als auch architektonischem Anspruch verweisen, das sich über gut ein Jahrhundert erstreckt. Denn bereits seit den 1920er-Jahren wird hierzulande der geförderte Wohnbau kontinuierlich weiterentwickelt und genießt höchste internationale Anerkennung. Wie zahlreiche Auszeichnungen und Studien beweisen, die Wien in regelmäßigen Abständen eine überdurchschnittlich hohe Lebensqualität bescheinigen. Diese ist nicht zuletzt auch auf den sozialen Wohnbau zurückzuführen. So werden beispielsweise Bauträgerwettbewerbe, die im geförderten Wohnbau als Lenkungsinstrument mit innovativen Qualitätsanforderungen dienen, von UN-Habitat als „Best Practice“ geführt. Ebenso wurde aber auch die sanfte Stadterneuerung mit dem „Scroll of Honour“ – dem höchsten Preis der Vereinten Nationen im Bereich des Wohnens – prämiert.
Qualitätssicherung im Wohnbau
Die Dynamik wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse hat an Intensität und Ausmaß weltweit zugenommen. „Wenn wir die international herausragende Qualität im sozialen Wohnbau für die Zukunft sichern und weiter ausbauen wollen, dann müssen in einer sich ständig verändernden Welt auch neue Wege beschritten werden“, erklärt Dr. Michael Ludwig. „Der soziale Grundsatz, breiten Bevölkerungsschichten den Zugang zu leistbarem und qualitätsvollem Wohnraum zu ermöglichen, wird uneingeschränkt das Fundament bilden, auf dem auch alle zukünftigen Maßnahmen aufbauen werden. Gleichzeitig gilt es jedoch, die Richtlinien, Methoden und Verfahren im Hinblick darauf zu überprüfen sowie innovative Lösungen für den sozialen Wohnbau der Zukunft zu erarbeiten“, so Ludwig weiter. Einen wesentlichen Beitrag dazu soll die IBA leisten, die seit jeher als Spiegel ihrer Zeit bezogen auf gesellschaftliche, technische und kulturelle Strömungen und Entwicklungen gilt.
Leitthemen für das neue soziale Wohnen
Mit den Schwerpunkten „Neue soziale Quartiere“, „Neue soziale Qualitäten“ und „Neue soziale Verantwortung“ definiert das IBA-Memorandum drei zentrale Leitthemen für die teilweise in Entwicklung, teilweise bereits in Realisierung befindlichen (Wohn)Bauprojekte vor.
Nutzungsdurchmischung, Synergien durch gemeinschaftliche Entwicklungen, alternative Finanzierungs- und Kooperationsmodelle für ältere Menschen, Jungfamilien, Singles usw. sind die Anforderungen, die an die neuen sozialen Quartiere der Zukunft gestellt werden. Dabei nehmen im Sinne der sozialen Qualitäten natürlich auch neue Wohnformen, Gemeinschaftsquartiere, soziale Interaktionen sowie generelle Fragen nach der Leistbarkeit des Wohnens ebenso wie des Alltagslebens einen besonderen Stellenwert ein. All das steht in engem Zusammenhang mit der staatlichen und kommunalen Verantwortung sowie der aktiven Förderung des sozialen Wohnbaus. Dabei stellt sich angesichts angespannter Finanzhaushalte sowohl in den Kommunen als auch aufseiten des Bundes die Frage nach innovativen Träger- und Finanzierungsmodellen, um die hohe Qualität des heimischen Wohnbaus auch in Zukunft zu leistbaren Preisen sicherstellen zu können.
Sanfte Stadterneuerung und -erweiterung
Einige der IBA-Projekte sind bereits angelaufen bzw. befinden sich in Vorbereitung, wie beispielsweise Blocksanierungen im 15. Wiener Gemeindebezirk oder auch in der Per-Albin-Hansson- Siedlung in Wien-Favoriten. Andere sind bereits konkret in der Entwicklung, wie erste Bauträgerwettbewerbe, beispielsweise „Junges Wohnen“ in Neu-Leopoldau oder Arbeiten und Wohnen in der Seestadt Aspern, die mit einer Fläche von 240 Hektar – oder umgerechnet 340 Fußballfeldern – nicht nur die umfassendste Stadterweiterungsmaßnahme in der Bundeshauptstadt seit der Gründerzeit darstellt, sondern auch eines der aktuell größten Stadtentwicklungsgebiete Europas ist. Rund 20.000 Bewohner werden hier nach dem Endausbau einen neuen Lebens- und Arbeitsraum finden.
Gebaute Wohn(bau)visionen
Die Herausforderungen, mit denen sich Architektur und Stadtentwicklung in Zukunft vor dem Hintergrund zunehmender Bevölkerungsdichten konfrontiert sehen, sind vielfältiger denn je. „Städtische Gebäude müssen in Zukunft mehr als nur Wohn- und Arbeitsraum bieten“, ist beispielsweise auch Werner Jager, Hochschulprofessor in Augsburg und Experte für energieeffiziente Fassaden, überzeugt. So müssen innovative Gebäude sowohl auf die Probleme der Luftverschmutzung in der Stadt eingehen als auch Lösungen für die Lärmbelästigung, die Energiegewinnung oder die Überhitzung bieten. Dabei kommt neben den unterschiedlichen Bauweisen auch den urbanen Gesichtern – sprich den Fassaden – eine besondere Bedeutung zu. Fassadenbegrünungen, die sich positiv auf das Kleinklima auswirken, aber ebenso die Positionierung von Gebäuden im größeren urbanen Kontext nehmen einen entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität der Stadt- bewohner. Wenn eine intelligente Raum- und Flächenwidmungsplanung zum Beispiel zulässt bzw. unterstützt, dass Wind durch die Stadt bläst und so für Kühlung sorgt – in Kombination mit innovativen Baustoffen wie z. B. PCM –, wird nach Werner Jager für eine effiziente Kühlung gesorgt – ohne dass zusätzliche Energie verschwendet wird.
Viele der neuen Bauprojekte in den Stadterneuerungs- und -erweiterungsgebieten in Wien, wie die Seestadt Aspern, das Sonnwendviertel um den neuen Wiener Hauptbahnhof oder das ehemalige Gelände des Nordwestbahnhofes, zeigen erste solcher Wohnvisionen in realer Umsetzung und tragen zur qualitätsvollen Stadtverdichtung und Wohnraumschaffung bei. So setzt beispiels-weise das Leuchtturmprojekt HoHo Wien auf Holz als ressourcenschonendes Baumaterial. Mit einem Holzbauanteil von über 75 Prozent und 24 Stockwerken wird es nach seiner Fertigstellung weltweit das höchste Wohngebäude in Holzbauweise sein und mit einem innovativen Energiekonzept samt Photovoltaikanlagen, Lutf-Wasser-Wärmekollektoren, Fundamentabsorbern, dezentralem Lüftungssystem oder einer Aufzugsanlage mit Energierückgewinnung für neue Standards im Wohn- und Hochhausbau sorgen.
Hoch hinaus will auch ein weiterer Hochhausbau von den Wiener querkraft Architekten unweit des HoHo-Turms. Reduzierte Verkehrsflächen, eine ressourcensparende Bau-weise und die sparsame Haustechnik sorgen für eine Reduktion der Baukosten. Das emöglicht zusätzliche Investitionen in Gemeinschaftseinrichtungen, eine hochwertige Hülle und private Freiräume in Form von tiefen Balkonen mit integrierten Pflanztrögen für eine grüne Fassade.
Die ganze Stadt als Ausstellungsgelände
Neubauten wie sanierte Bestandsgebäude, Nachbarschaftsviertel ebenso wie ganze Stadterweiterungsquartiere samt Freiräumen und neuen Konzepten des sozialen Zusammenlebens stehen im Mittelpunkt der Bauausstellung. Die Gebäude bzw. die Architektur stehen im Zentrum und machen die ganze Stadt abseits geschlossener Museumsräume zur Ausstellungsfläche. Was in Wien aber erstmals in diesem Ausmaß dazukommt, sind die sozialen Aspekte des Wohnens und Zusammenlebens. Womit nicht nur die Gebäudehülle, sondern auch das Innenleben – quasi die Software – dahinter ins Zentrum der Ausstellung rückt. Damit soll die IBA nicht nur als Open-Air-Showroom dienen, sondern auch als Motor für die weitere Entwicklung der Stadt- entwicklung und Baukultur.